Die Dinge, die wir sammeln
Designdokumente als historische Schätze
Alexander Max Bauer
Aric Wilmunder (o. J.) hatte auf seiner – inzwischen leider nicht mehr erreichbaren – Homepage einmal eine ganze Reihe von Designdokumenten veröffentlicht, die sich über lange Jahre in seinem Besitz angesammelt hatten. Unter der Überschrift „A Peek Into My Games Industry Archive“ hatte er die eingescannte Sammlung mit den Worten eingeleitet:
Monkey Island, Day of the Tentacle, Maniac Mansion, The Dig, Indy Iron Phoenix, the list goes on. I worked on all of these and had a suspicion that someday there would be interest in how these games were made. Years ago I visited the LucasArts facility in the San Francisco Presidio and brought along two grocery bags of design documents. I asked if they had an archivist and I was told that since I had kept these safe for over two decades, it was best if I just kept them together. I have met with the archivist at Stanford and these documents will either end up there or at a museum dedicated to preserving game design.
Darunter fanden sich Dokumente unter anderem zu The Secret of Monkey Island, The Curse of Monkey Island, Indiana Jones and the Last Crusade, dem nie erschienenen Indiana Jones and the Iron Phoenix, Maniac Mansion, Sam & Max Hit the Road, Star Wars: Rebel Assault oder The Dig. Tatsächlich werden Videospiele inzwischen – wie Literatur, Gemälde oder Filme – zunehmend als etwas betrachtet, das es zu bewahren und zugänglich zu machen gilt. In diesem Bewusstsein sind inzwischen sowohl in Deutschland wie auch international zahlreiche Sammlungen – einige in privater Hand, andere in öffentlicher Trägerschaft – entstanden, deren Bestand an Videospielen bis in die Zehntausende reicht. Sebastian Möring (2020, S. 120) resümiert:
Die nach eigener Auskunft größte private Computerspielsammlung ist mit 10.000 Spielen das Haus der Computerspiele. Sie wurde vom Leipziger Journalisten René Meyer initiiert. Die Sammlung des Computerspielemuseums in Berlin mit bis zu 30.000 Exemplaren geht auf die Initiative des Fördervereins für Jugend und Sozialarbeit (fjs e. V.) zurück. Sie ist damit die größte institutionalisierte Sammlung in Deutschland. Über die größte Sammlung an einer deutschen Hochschule verfügt das DIGAREC – Zentrum für Computerspielforschung der Universität Potsdam mit etwa 10.000 Spieletiteln. Auf internationaler Ebene sammeln etablierte Kulturinstitutionen wie das Museum of Modern Art (MoMA) und die Library of Congress in den USA oder die Königliche Bibliothek in Dänemark. Hierzulande erweitert das renommierte Deutsche Literaturarchiv Marbach seinen Sammlungsauftrag und schließt Computerspiele darin ein.
Vielleicht lässt sich schon hieran – mit aller gebotenen Vorsicht – ein Trend darin erkennen, wie mit Videospielen und dem sie umgebenden Kosmos als bewahrenswerte Kulturgegenstände umgegangen wird. Während darüber, ob Videospiele als Kunst gelten und als legitimer Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung oder philosophischer Reflexion betrachtet werden können, immer weniger Dissens herrscht, bleibt das von Wilmunder oben angesprochene Interesse daran, wie diese Spiele entstanden sind, in solchen Sammlungen häufig noch vergleichsweise verhalten. „Am Anfang“, schreibt Möring (ebd., S. 121), „steht bei den meisten Sammlungen die Frage nach den Objekten, welche gesammelt werden sollen.“ Das sind in erster Linie die Spiele selbst, also die entsprechende Software, eng damit verbunden aber auch die dazugehörigen Speichermedien und in einigen Fällen die benötigte historische Hardware, um die Spiele spielen zu können, wenn man nicht auf Emulatoren ausweichen möchte. Aus dem sie umgebenden Kosmos werden daneben aber auch „Zeitschriften und Bücher zu Computerspielen gesammelt sowie Actionfiguren, Comics, Filme“ (ebd.) und dergleichen mehr. Der Fokus scheint, wenig verwunderlich, auf offiziell veröffentlichtem Material zu liegen. Nur vergleichsweise selten widmet man sich den Vorstufen dieses Materials, den groben Ideenskizzen, den frühen Entwürfen und Designdokumenten, den Alpha- oder Betaversionen der Spiele, den internen Entwicklungswerkzeugen und so weiter. All das ist in der Regel – anders als das fertige Spiel – nur selten dafür bestimmt, in die Öffentlichkeit entlassen zu werden, sieht man von dem ein oder anderen Making-of-Buch oder Bildband mit Konzeptzeichnungen ab. Entsprechend konstatiert Nico Nolden (2020, S. 44): „Ungenutzt schlummern Artworks (Konzeptzeichnungen und ähnliches), Prototypen und Designdokumente in Firmenarchiven, die sich auflösen, sobald die Unternehmen eingehen.“
Nur sporadisch finden einzelne Dokumente oder unveröffentlichte Entwicklungsversionen von Spielen ihren Weg in die Öffentlichkeit. Oft ist dabei nur noch mit Mühe nachzuvollziehen, wie dieser Weg aussah. Durch die Weiten des Netzes geistern unter anderem – um nur ein paar wenige, von Mikael Segedi (2015) gesammelte und zugänglich gemachte Beispiele zu nennen – Designdokumente von Diablo, Doom, dem nie erschienenen Fallout: Brotherhood of Steel 2, Grim Fandango, Planescape: Torment, Silent Hill oder Tron.

Manchmal sammeln Liebhaber*innen solche Dokumente online, wie beispielsweise im Fall von Tomb Raider oder Gothic (vgl. Core Design Tribute Fan Site o. J., Phoenix Tales o. J.). In einigen Fällen wird eine solche Veröffentlichung aber auch von Entwickler*innen oder Publishern selbst forciert. Al Lowe (2025) beispielsweise hat auf seiner Homepage unter anderem Dokumente zu Leisure Suit Larry 5: Passionate Patti Does a Little Undercover Work, Leisure Suit Larry 6: Shape Up or Slip Out! und Leisure Suit Larry 7: Love for Sail! zugänglich gemacht. Andere – inzwischen ebenso wie Al Lowes eingangs genanntes Beispiel nur noch über die Wayback Machine des Internet Archive erreichbare – Beispiele umfassen Richard Hill-Whittall (2017), der eine Reihe von Dokumenten zu Wii- und PSVita-Spielen auf seiner Homepage veröffentlicht hatte, Mike Dailly (2011), der das Designdokument von Grand Theft Auto auf Flickr hochgeladen hatte, Deep Silver Volition (2016), die Dokumente des nie erschienenen Saints Row: Undercover veröffentlicht hatten oder Giant Sparrow (2018), die einen internen Trailer und Dokumente von What Remains of Edith Finch auf ihrem Blog zugänglich gemacht hatten.
Daneben gibt es auch einige Entwickler, die – wahrscheinlich nicht ohne ein gewisses videospielhistorisches Selbstverständnis und -bewusstsein – eigene Editionen ihrer Notizen herausgebracht haben, etwa Jordan Mechner (2012, 2020) mit The Making of Karateka und The Making of Prince of Persia oder Zach Barth (2019) mit Zach-Like. In jüngster Zeit hat außerdem die von Frank Cifaldi gegründete Video Game History Foundation die Tore ihres digitalen Archivs geöffnet. Die mehr als 30.000 Archivalien umfassen neben Videospielmagazinen, Artworks, Pressemappen und anderem Werbematerial auch „[n]ever-before-seen game development materials“ (Salvador 2025).
Dass diese Fälle eher Ausnahmen bleiben und der Fokus von Sammlungen in erster Linie auf offiziell veröffentlichtem Material zu liegen scheint, ist kaum verwunderlich. Wahrscheinlich halten die meisten Kunstschaffenden die Vorstufen ihrer Werke zu Lebzeiten zurück; viele Sammlungen speisen sich vermutlich vorrangig aus dem Nachlass. Daneben sind immer – sowohl zu Lebzeiten von Künstler*innen wie auch danach – rechtliche Fragen zu klären. Außerdem sind viele Spiele nicht das Werk einer einzelnen Person, sondern ganzer Gruppen. Hier ist unter Umständen also ein komplexes Netz geistigen Eigentums zu beachten. Zudem entstehen Videospiele überwiegend im Kontext marktwirtschaftlich agierender Unternehmen, die sich wahrscheinlich oft nicht in die eigenen Karten der Spieleproduktion blicken lassen möchten.
Trotz solcher Schwierigkeiten plädiere ich dafür, dass diese oft unveröffentlichten Dokumente als wichtige Quellen für die Videospielforschung angesehen werden. Für mich stellen solche Dokumente ein Analogon dar zu Vorstufen, Vorskizzen, Notizen, Briefen und all den anderen Hintergrunddokumenten, die wir heranziehen, wenn wir uns Schriften oder Kunstwerken eingehender widmen. Denkt man diesen Gedanken weiter, muss man sich fragen, wie solche Dokumente aus dem Kosmos der Videospiele archiviert, zugänglich gemacht und aufbereitet werden können. Hier liegt ein Brückenschlag zur Editionswissenschaft nahe. Immerhin: Wenn Bodo Plachta (1997) das Folgende in seiner Einführung in die Editionswissenschaft schreibt, scheint es mir vor diesem Hintergrund nicht so abwegig, das erste Wort – „Texte“ – durch „Videospiele“ zu ersetzen:
Texte sind historische Dokumente. Ihre Entstehung und die aus ihr resultierenden Ergebnisse müssen als ein historischer Prozeß beschrieben und fixiert werden. Diesen Entstehungsprozeß in seiner Komplexität aus historischen, biographischen oder poetologischen Komponenten möglichst umfassend zu dokumentieren und zu erläutern, ist ein wichtiges Ziel der historisch-kritischen Ausgabe. Dazu ist es notwenig, nicht nur sämtliche Materialien eines zu edierenden Werkes oder Textes zu sichten, sondern die Arbeitsstadien aus diesem Material zu ermitteln, diese zur Entstehung in Beziehung zu setzen und den zu rekonstruierenden Entstehungsprozeß in seiner ganzen Komplexität bis zu einer eventuellen Publikation zu verfolgen.
Ich möchte unterstreichen, dass Videospiele es, wenn man sie als Kulturgüter begreift, verdient haben, nicht nur in ihrem Ergebnis, sondern auch in ihrer Entstehung ernst genommen zu werden. Und das heißt, nicht in allen, aber doch in einigen Fällen, ebenso ernst genommen zu werden wie ein Text von Kafka oder Shelley, ein Gemälde von Dürer, eine Grafik von Kollwitz oder eine Komposition von Pejačević. Wir – das heißt wir Forscher*innen, Entwickler*innen und Archivar*innen – müssen uns darüber unterhalten, wie wir sicherstellen können, dass diese wichtigen historischen Dokumente sich eben nicht „auflösen, sobald die Unternehmen eingehen“.
Literatur
Barth, Zach (2019): „Zach-Like. A Game Design History“, Zachtronics, https://www.zachtronics.com/zach-like/ (abgerufen am 15.02.2025).
Core Design Tribute Fan Site (o. J.): „Tomb Raider Game Design Document“, https://core-design.com/goodies_tr1_gamedesigndocuments.html (abgerufen am 15.02.2025).
Dailly, Mike (2011): „Race’n’Chase. Game Design“, Flickr, https://web.archive.org/web/20210322194945/https://www.flickr.com/photos/mikedailly/5548280212/in/album-72157602022230830 (abgerufen am 15.02.2025).
Deep Silver Volition (2016): „This Thursday we’ll be showing off Saints Row Undercover on our weekly stream!“, Tumblr, http://web.archive.org/web/20220824010947/https://volition.tumblr.com/post/138024475592/this-thursday-well-be-showing-off-saints-row (abgerufen am 15.02.2025).
Giant Sparrow (2018): „Early Concept Docs for What Remains of Edith Finch“, http://web.archive.org/web/20221226082622/https://www.giantsparrow.com/blog/?p=587 (abgerufen am 25.02.2025).
Gilbert, Ron (2015): „Maniac Mansion Design Doc“, Grumpy Gamer, https://grumpygamer.com/maniac_mansion_design_doc/ (abgerufen am 15.02.2015).
Hill-Whittall, Richard (2017): „Old GDD Docs“, 2017, http://web.archive.org/web/20221006210118/https://www.richardhillwhittall.com/old-gdd-docs/ (abgerufen am 15.02.2025).
Lowe, Al (2025): „Game Designs“, Al Lowe’s Humor Site, http://allowe.com/games/game-designs.html (abgerufen am 15.02.2015).
Mechner, Jordan (2012): The Making of Karateka. Journals 1982–1985, Scotts Valley: CreateSpace.
Mechner, Jordan (2020): The Making of Prince of Persia. Journals 1985–1993, San Francisco: Stripe Press.
Möring, Sebastian (2020): „Kulturarchive“, in Handbuch Gameskultur, hrsg. von Olaf Zimmermann und Felix Falk, Berlin: Deutscher Kulturrat.
Nolden, Nico (2020): „Geschichte“, in Handbuch Gameskultur, hrsg. von Olaf Zimmermann und Felix Fal, Berlin: Deutscher Kulturrat.
Phoenix Tales (o. J.): Gothic Archive, https://gothicarchive.org/ (abgerufen am 25.02.2025).
Plachta, Bodo (1997): Editionswissenschaft, Stuttgart: Reclam.
Salvador, Phil (2025): „The VGHF Library Opens in Early Access“, Video Game History Foundation, https://gamehistory.org/vghf-library-launch/ (abgerufen am 15.02.2025).
Segedi, Mikael (2015): „Game Design Document From Famous Games“, https://mikaelsegedi.blogspot.com/2015/02/game-design-document-from-famous-games.html (abgerufen am 15.02.2025).
Wilmunder, Aric (o. J.): „A Peek Into my Games Industry Archive“, Aric’s World, https://web.archive.org/web/20180226005830/http://wilmunder.com/arics_world/games.html (abgerufen am 15.02.2025).
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akgwdsredaktion (2. März 2025). Die Dinge, die wir sammeln. gespielt. Abgerufen am 15. März 2025 von https://doi.org/10.58079/13eo1